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Leben

Neue Zukunft, alte Probleme: Das ist Neom

Neom soll eine Hightech- und Öko-Metropole werden – und Prestigeobjekt der „Vision 2030“ des saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman.
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© Photo by Ishan @seefromthesky on Unsplash
26.10.2021

Das fossile Zeitalter neigt sich dem Ende zu. Im Hinblick auf Klimawandel und Energiewende wird die Nachfrage nach dem fossilen Brennstoff Öl künftig sinken. 87 Prozent des Bruttoinlandproduktes von Saudi-Arabien hängen allerdings von der Öl-Industrie ab. Deshalb will die saudische Königsfamilie mit der „Vision 2030“ eine radikale Transformation der heimischen Wirtschaft: die ökonomische Öffnung gen Westen, Investitionen in die Bildung und eine revolutionäre Planstadt sollen hierbei die Grundpfeiler sein. Doch das Projekt ist umstritten.

Blauer Himmel, schier unerträgliche Hitze – und mittendrin steigen Flammen aus den Bohrtürmen empor. In der saudischen Wüste befinden sich einige der größten Ölfelder der Erde. Doch der Klimawandel sorgt dafür, dass die Feuersäulen bald nicht mehr lodern werden. Denn: Die globale Erwärmung verlangt ein Umdenken in Wirtschaft und Gesellschaft – und die Menschheit steht vor richtungsweisenden Jahren und Entscheidungen.

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Manche Länder trifft der Umschwung hin zu erneuerbaren Energien und Nachhaltigkeit härter als andere – beispielsweise die Golfstaaten, die extrem vom Export fossiler Brennstoffe abhängig sind. Saudi-Arabien hat sich dieses Problems angenommen und vor vier Jahren die „Vision 2030“ vorgestellt. Mehr als 1.600 Milliarden Euro investiert das Königshaus in Form eines staatlichen Investmentfonds für die bis dato weitreichendste Transformation im Mittleren Osten. Damit soll vor allem der Ausbau von erneuerbaren Energien vorangetrieben, Investitionen in den Bildungssektor getätigt und die Planstadt Neom gebaut werden – koste es, was es wolle.

Vom Konservatismus zum Liberalismus – aber nicht überall

Die Metropolregion am Roten Meer verschlingt rund ein Drittel des Gesamtbudgets aus dem Staatfonds und wird 30-mal so groß wie New York sein. Dabei soll sie für ausländische Unternehmen und Investor*innen ähnlich attraktiv wie der „Big Apple“ sein. Geplant ist ein eigenes Rechts- und Steuersystem, weit weg von den Schariah-basierten und konservativen Gesetzen im Rest des Landes. Außerdem will Mohammed bin Salman, der Kronprinz Saudi-Arabiens, Tech-Giganten wie Amazon, Tesla oder Google mit kostenlosem Strom und subventionierten Arbeitskräften in die Planstadt locken. „Neom wird das weltweit höchste BIP generieren“, verspricht bin Salman.

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Mit diesen Maßnahmen plant der Kronprinz, den Zuzug von Unternehmen und qualifizierten Arbeitskräften aus Industriestaaten zu sichern. Darüber hinaus soll die Stadt auch für Tourist*innen attraktiv werden. Hierfür hat Neom gemeinsam mit der Welt-Tourismus-Organisation UNWTO eigens eine Initiative ins Leben gerufen: Gesucht werden die „touristischen Erlebnisse der Zukunft“. Was sich genau dahinter verbirgt, ist noch ungewiss. Sicher ist hingegen, dass Alkohol erlaubt sein wird und Frauen das Haus ohne Kopftücher verlassen dürfen. In einem Punkt soll sich Neom aber von der US-Metropole unterscheiden: Der Mensch und nicht der Verkehr soll im Mittelpunkt stehen. Nicht weniger als eine „Revolution des urbanen Lebens“, versprach Mohammed bin Salman, de-facto-Herrscher des Golfstaates.

Utopie …

Mehr Roboter als Menschen, Gesichtserkennung anstelle von Schlüsseln und Ausweisen, Künstliche Intelligenz, soweit das Auge reicht – ein Vorbild für die Städte der Zukunft, so der Tenor der Beteiligten. Dabei soll die Stadt ausschließlich mit erneuerbaren Energien versorgt werden und sogar klima-positiv sein. Sie wäre die Erste ihrer Art. Außerdem werden Flugtaxis Autos ersetzen, Supermärkte wird es dank Lebensmittellieferung per Drohne auch nicht mehr geben. Auch die medizinische Versorgung wird weltweit ihresgleichen suchen, so die Pläne. Am Roten Meer wird aber noch eine weitere Stadt entstehen – „The Line“ heißt sie.

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Eine Stadt, die 170 km lang ist und – wie der Name schon verrät – linienförmig sein wird. Auch hier sollen die technischen Finessen, die in Neom Standard sein werden, eine große Rolle spielen. Die Besonderheit liegt aber vor allem in der Städteplanung: Um allen Bewohner*innen einen schnellen Zugang zur Natur bieten zu können, wird die Millionenstadt linienförmig und die komplette Infrastruktur unterirdisch gebaut. Darüber hinaus sollen Krankenhäuser, Arbeitsplätze und Ladengeschäfte in nur 20 Minuten zu Fuß erreichbar sein. Schöne, neue Welt, oder? Nicht ganz. Über der schillernden Utopie ziehen dunkle Wolken auf.

… oder Dsytopie?

Dem Wall Street Journal zufolge heißt es in Unterlagen des Kronprinzen: „Dies soll eine automatisierte Stadt sein, in der wir alles beobachten können. Computer sollen Straftaten melden und alle Bürger tracken können.“ Also eine Totalüberwachung auf Schritt und Tritt, inklusive automatisierter Polizei. Darüber hinaus werden auch die Richter, die das Neom-eigene Rechtssystem vertreten, direkt dem König unterstellt sein. Eine befremdliche Vorstellung für westliche Bürger. Außerdem sieht sich bin Salman mit dem Vorwurf des „Green-Washings“ konfrontiert. So soll die Vision 2030 dazu beitragen, ein liberales und weltoffenes Bild von Saudi-Arabien in die Welt zu transportieren und von den Gräueltaten des Kronprinzen ablenken.

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Denn es müssen Zehntausende Angehörige des Stammes Hwaitit umgesiedelt werden, um Platz für das Mega-Projekt zu schaffen. Dies geschieht allerdings nicht in beidseitigem Einvernehmen, wie der Fall von Abdul Rahman Alhwaiti zeigt: Bewaffnete Spezialkräfte umstellten das Haus des Bauern, der schon länger Widerstand gegen die Zwangsumsiedlung leistete. Auch dieses Mal wollte er nicht aufgeben und nahm ein Video auf, das um die Welt ging. „Sie werden mich töten, sie werden Waffen neben mich legen und sagen, ich sei ein Terrorist gewesen“, so die letzten Worte des 47-Jährigen. Anschließend waren Schüsse zu hören, der „militante“ Alhwaiti starb an diesem Tag. Dieser Fall zeigt einmal mehr – ähnlich wie bei der Ermordung des regierungskritischen Journalisten Jamal Khashoggi –, dass der saudische Kronprinz bin Salman bereit ist, für seine Vision über Leichen zu gehen. Koste es, was es wolle.

26.10.2021