Am Vormittag jagt ein Meeting das nächste, dazwischen ein dringender Telefonanruf, während das Mail-Postfach schon wieder überquillt. Ein Müsliriegel zum Mittagessen – mehr Zeit bleibt einfach nicht, denn am Nachmittag muss unbedingt noch eine Präsentation fertiggestellt werden. Pünktlich Feierabend machen? Daraus wird wohl auch heute wieder nichts …
Vollgepackte Arbeitstage, die kein Ende zu nehmen scheinen, kennt jeder. Häufen sich diese, kann das drastische Folgen haben: Laut des DAK-Psychoreports 2019 standen psychische Erkrankungen im vergangenen Jahr in Deutschland an dritter Stelle als Ursache für Arbeitsunfähigkeit, hochgerechnet waren 2,2 Millionen Menschen davon betroffen. Nicht nur Manager und Workaholics, sondern auch junge Arbeitnehmer aus der Generation der Millenials erkranken an Burnout. Auslöser sind die zunehmend fließenden Grenzen zwischen Beruf und Freizeit, gesellschaftliche Erwartungen sowie der hohe Selbstoptimierungsdruck. So gaben 63 Prozent der Befragten in einer Studie des Versicherungs- und Finanzberatungsunternehmen Swiss Life an, dass sie ihr Stresslevel im Job als hoch oder eher hoch einschätzen.

Auch in der Finanzbranche haben Fehlzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen zugenommen: Im ersten Halbjahr 2019 lag der Krankenstand bei den AOK-versicherten Beschäftigten aus der Finanz- und Versicherungsbranche bei 4,44 Prozent, wie aus einer Auswertung des Instituts für Betriebliche Gesundheitsförderung hervorgeht. 2017 war die Quote mit 4,07 Prozent noch deutlich niedriger. Als Grund dafür nannte die AOK auf Presseanfrage die stetige Zunahme seelischer Leiden.
Neben dem Zeitdruck können auch ein rasanter Informationsfluss über verschiedene Kanäle wie Telefon, E-Mail oder Chat hinweg, ständige Prozessveränderungen oder eine unangenehme Atmosphäre am Arbeitsplatz Stress verursachen. Zwar hängt es auch von persönlichen Faktoren ab, an Burnout zu erkranken, dennoch macht die moderne Arbeitswelt mit ihren wechselnden Strukturen und Anforderungen Arbeitnehmer anfälliger für Seelenleiden. „In vielen Berufen haben der Leistungsdruck und die Konkurrenz in den vergangenen 20 Jahren zugenommen. Dadurch sind auch Erschöpfungskrisen häufiger geworden“, sagt der Medizinsoziologe Johannes Siegrist von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf im Interview mit Business Insider.
Mitarbeiter als wichtigste Ressource
Während mit zunehmendem Stresslevel die Produktivität sinkt, steigen die krankheitsbedingten Ausfälle, was wiederum zu höheren Kosten führt. Unternehmen haben schon seit Längerem erkannt, dass fokussierte und konzentrierte Mitarbeiter ihre wichtigste und wertvollste Ressource sind. Viele Firmen bemühen sich deshalb, einen Ausgleich zu schaffen und so die mentale Gesundheit ihrer Mitarbeiter zu fördern. Sie setzen hierbei zum Beispiel auf die Methodik der Achtsamkeit.
Achtsamkeit – woher kommt‘s?
Achtsamkeitsübungen im Beruf gehen auf die Methode des US-amerikanischen Professors für Molekularbiologie Jon Kabat-Zinn zurück. Er hat 1979 das Programm der achtsamkeitsbasierten Stressreduktion (Mindfulness-Based Stress Reduction, MBSR) entwickelt. Der Kurs umfasst einen Body-Scan, Yoga und Meditation. Das Modell wird mittlerweile weltweit praktiziert und hierzulande auch von Krankenkassen bezuschusst.
Das einstige Schlagwort ist längst zur praktikablen Methode geworden. Und es wirkt: So hat die Diplom-Psychologin und Neurowissenschaftlerin Britta Hölzel an der Harvard Medical School in Boston herausgefunden, welche Auswirkungen Achtsamkeitspraktiken auf Strukturen und Funktionsweisen im Gehirn haben. Dafür überprüfte sie die Hirnareale von Teilnehmern eines MBSR-Trainings – vor dem Kurs und danach. Sie konnte nachweisen, dass die Dichte der grauen Zellen im Gehirn während des Trainings deutlich zunimmt. In dem Bereich des Gehirns, der den Menschen in Alarmbereitschaft versetzt, der Amygdala, hatte sich außerdem die graue Substanz analog zum reduzierten Stressempfinden verkleinert.
Achtsamkeit im Unternehmen
Wer Achtsamkeit praktiziert, kann die Produktion des Stresshormons Kortisol, Angstgefühle und Erschöpfungserscheinungen reduzieren. Dadurch arbeitet man konzentrierter, kreativer und zufriedener. In den Unternehmen ist der Trend angekommen: So setzen etwa Bosch, SAP und Continental verschiedene Achtsamkeitsmethoden wie Mediation und Stressbewältigungsmanagement ein, Führungskräfte erhalten entsprechende Schulungen. Konkret sieht das so aus: Bei Robert Bosch Automotive Electronic wurde bereits vor einigen Jahren ein Campus initiiert. Dort definieren die Chefs in mehrmonatigen Trainings, wie gute Führung aussieht, und lernen in Meditationskursen, in sich selbst hineinzuhören und dadurch besser auf Mitarbeiter zuzugehen. Für diese bietet die Betriebskrankenkasse von Bosch eine Initiative zur Stärkung der eigenen Ressourcen an.

Auch SAP setzt auf Achtsamkeit. Peter Bostelmann, Director SAP Global Mindfulness Practice, hat dort 2013 Achtsamkeitskurse auf neurowissenschaftlicher Grundlage eingeführt und daraus ein globales Programm entwickelt. Sein Erfolg spricht für sich: So sind Mitarbeiter, die das Seminar besucht haben, seltener krank als Kollegen ohne Meditationserfahrung. Auch SAP-Kunden wie Siemens, Procter & Gamble und die Deutsche Telekom haben inzwischen die SAP-Global-Mindfulness-Practice-Übungen und Search-Inside-Yourself-Kurse in das Schulungsangebot für ihre Mitarbeiter übernommen.
Vorbild Führungskraft
Damit Achtsamkeitsmethoden erfolgreich im Unternehmen etabliert werden, sollten zunächst Führungskräfte ein entsprechendes Training durchlaufen. Nur wenn sie einen achtsamen Arbeitsalltag zulassen und vorleben, können alle Mitarbeiter davon profitieren. BMW verpflichtet deshalb seine Führungskräfte zur Teilnahme an Seminaren zum Thema Stressmanagement, bei Bosch und der Deutschen Bank wird die Weiterbildung immerhin angeboten. Zudem hat die Deutsche Bank Achtsamkeit zum Jahresgesundheitsthema 2019 und 2020 gemacht. Zusammen mit der Betriebskrankenkasse hat die Bank verschiedene Angebote und Workshops rund um das Thema „Achtsam durch den Tag – Anforderungen gesund meistern“ bereitgestellt.

Neben der Deutschen Bank wagen sich allmählich auch andere Institute und Dienstleister aus der Finanzbranche an die Methodik. So verfolgt etwa die Sparda Bank München ein einzigartiges Konzept, bei dem der Mitarbeiter und nicht allein seine Produktivität im Mittelpunkt steht. Und auch die Fiducia & GAD setzt sich mit dem Thema auseinander: Am Standort in Karlsruhe wird beispielsweise ein Achtsamkeitstraining angeboten.
Neugierig, wie Achtsamkeit im Alltag funktioniert?
Im Podcast spricht Sarah Ochs mit dem Medizininformatiker Dr. Jörg-Peter Schröder über Achtsamkeit und Resilienz im digitalen Zeitalter. Er sagt: „Achtsamkeit hilft, wieder im Hier und Jetzt zu sein, ohne ständig defokussiert zu werden.“