Autos bauen ist eine komplexe Angelegenheit. Das gilt heute noch genau wie vor 70 Jahren. Als der spanische Autohersteller Seat im Industriegebiet Zona Franca unweit von Barcelona 1953 sein erstes Werk eröffnete, wurden dort allerdings gerade mal fünf Fahrzeuge am Tag gefertigt – in Handarbeit und mit spanischer Gelassenheit. Heute, fast ein Dreivierteljahrhundert später, verlassen täglich fast 2.400 Fabrikate das Werk am 30 Kilometer entfernten Nachfolgestandort in Martorell. In nur drei Minuten rollen hier also so viele Autos vom Band wie in den Fünfzigern an einem Tag. Die Hilfe von Robotern macht‘s möglich. Rund 2.000 intelligente Maschinen gehen ihren 7.000 menschlichen Kolleg*innen zur Hand und sorgen für effizientere Arbeitstage.

Die Welt der Autoproduktion hat sich gewandelt. Ursache dafür ist wie so oft der technische Fortschritt. Automatisierung lautet das Zauberwort. Sie ist eine der großen Errungenschaften der digitalen Transformation. Mit ihrer Hilfe lassen sich Fertigungsprozesse statt von Menschen durch Maschinen erledigen – automatisiert eben. Und das nicht nur im Automobilbereich, sondern in der gesamten Industrie. „Wir erleben die größte wirtschaftliche Revolution seit der Industrialisierung“, sagt Nils Müller, Gründer der Zukunftsagentur TRENDONE und einer der einflussreichsten Trendforscher Europas. Der Grund: „Bislang haben sich Veränderungen immer auf physische Arbeit bezogen“, sagt er. „Jetzt kommt Künstliche Intelligenz ins Spiel.“ Die Automatisierung, so Müller, sei erst der Anfang. Mit ihr beginnt ein neues Industriezeitalter: die sogenannte Industrie 4.0.
Vier Schritte in ein neues Industriezeitalter
Dabei ist Automatisierung an sich erst einmal nichts Neues. Schon die alten Griechen versuchten sich daran. Allen voran Heron von Alexandria. Der Ingenieur soll eine sich selbst öffnende Tempeltür und einen Weihwasser-Automaten erfunden haben – im ersten Jahrhundert. Die Idee ist also längst bekannt. Aber sie hat sich entwickelt. Im ersten Schritt, sozusagen der Industrie 1.0, ging es um automatisierte Prozesse. Dem Ursprung der Industrialisierung. Für den zweiten Schritt sorgte die Elektrizität Anfang des 20. Jahrhunderts. Henry Fords Fließband war Sinnbild für die Industrie 2.0.
Wir erleben die größte wirtschaftliche Revolution seit der Industrialisierung
Nils Müller, CEO TRENDONE
Das dritte Kapitel, Industrie 3.0, hat der Computer angestoßen. Wir nennen es Digitalisierung. Und die vierte Phase, in die wir aktuell eintauchen, bezieht sich auf die Entwicklung sogenannter cyber-physischer Systeme – sprich Maschinen, die die Arbeit des Menschen unterstützen oder übernehmen. Damit ist aber keineswegs nur eine klassische Fabrikautomation gemeint, also die Massenfertigung gleichartiger Produkte. Sondern eine selbstorganisierte Fertigung, in der ebenso intelligente wie autonome Systeme interagieren und so auch individuelle Produkte fertigen können.

Mit anderen Worten: In der Industrie 4.0 ist alles miteinander vernetzt – Menschen, Maschinen, Prozesse. Innerhalb des Unternehmens, aber auch im Austausch mit Kunden oder Geschäftspartnern. Unzählige Sensoren entlang dieser Vernetzung sammeln alle wesentlichen Informationen im sogenannten Internet of Things (IoT). So wird die gesamte Kommunikation, sämtliche Produktionsabläufe, jeglicher Datenaustausch permanent getrackt. Diese Informationen wiederum ermöglichen Innovationen auf unterschiedlichen Ebenen: etwa in der Produktion, der Wartung von Anlagen und Maschinen oder der Entwicklung neuer Services und Dienstleistungen.
Wie Unternehmen Vernetzung intelligent nutzen
Es gibt also für Unternehmen gleich eine ganze Reihe von Möglichkeiten, intelligente Vernetzung zu nutzen. In die Produktion zum Beispiel sind meist eine Vielzahl von Gewerken eingebunden. Digital vernetzt können sie sich besser abstimmen und so etwa die Auslastung der Maschinen besser planen. Außerdem macht Konnektivität Produktionsstraßen flexibler. Soll ein anderes Produkt gefertigt werden, schreiben sich die intelligenten Maschinen einfach um. Das erhöht die Produktivität. Außerdem können so auch individuelle Produkte in kleineren Stückzahlen günstiger gefertigt werden. Ein weiterer Aspekt ist die Logistik. So berechnen Algorithmen die perfekten Lieferwege und melden selbstständig, wenn neues Material benötigt wird. Die smarte Vernetzung ermöglicht so einen verbesserten Materialfluss.

Darüber hinaus rücken Kundschaft und Hersteller näher zusammen. So können Kund*innen beispielsweise selbst Produkte mitgestalten. Gleichzeitig können smarte Produkte, die schon ausgeliefert sind, weiterhin Daten an den Hersteller senden. Der kann dann mithilfe dieser Daten seine Produkte permanent verbessern. Ähnlich sieht auch das Konzept des digitalen Zwillings aus – eine exakte virtuelle Kopie des realen Produkts. Mit Echtzeitdaten gefüttert, liefert dieser Zwilling Informationen über das Produkt, ohne das es zuvor vielfach produziert und eingesetzt wurde.
Dabei muss ein virtueller Zwilling nicht einmal zwingend ein Gegenstand sein. Auch komplexe Prozesse wie Fertigungen oder Lieferketten können so simuliert werden. Die Daten können dann zum einen helfen, Produkte oder Prozesse zu verbessern. Zum anderen können sie auch Grundlage für völlig neue Geschäftsmodelle sein. Wenn etwa ein Fahrstuhl permanent Informationen sendet, kann er gewartet oder repariert werden, bevor er ausfällt. Das spart Zeit, Geld – und jede Menge Nerven.

Mehr Nachhaltigkeit dank Industrie 4.0
Neben diesen betriebswirtschaftlichen Vorteilen erfüllt Industrie 4.0 aber auch einen gesamtgesellschaftlichen Nutzen. Denn durch intelligente Vernetzung wird nicht nur die Effizienz in den Fabrikhallen und entlang der gesamten Wertschöpfungskette erhöht. Die smarte Revolution verhilft der Wirtschaft auch zu mehr Nachhaltigkeit Die Unternehmen haben das erkannt. Laut einer Umfrage des Potsdamer Institute for Advanced Sustainability Studies, erwarten 53 Prozent der befragten Vertreter*innen deutscher Unternehmen durch den Einsatz von Industrie-4.0-Technologien eine Verbesserung ihrer Umwelteinflüsse. Unter den chinesischen Firmen waren es 67 und unter den brasilianischen sogar 82 Prozent. Auffällig ist jedoch: „Je weiter das jeweilige Unternehmen mit der Umsetzung war, umso moderater waren etwa die Erwartungen für die tatsächlichen Energieeinsparungen“, sagt Grischa Beier, der die internationale Forschungsgruppe leitet. Dabei ist das Verbesserungspotenzial enorm.

So gibt es für Unternehmen gleich mehrere Möglichkeiten, die Errungenschaften der Industrie 4.0 in einen nachhaltigen Gemeinwohlbeitrag umzumünzen. Zum Beispiel werden zwischen intelligent vernetzten Maschinen permanent Produktionsdaten ausgetauscht. Das reduziert die Gefahr einer Überproduktion – und spart wertvolle Ressourcen. Auch die automatisierte Wartung hat einen nachhaltigen Nutzen. Denn wenn die Maschine sich selbst darum kümmert, bringt sie jederzeit die effizienteste Leistung. Das heißt, sie verbraucht ihr Minimum an Energie, funktioniert reibungslos und produziert keine Fehler. Schließlich macht auch die Vernetzung mit Kunden oder Partnern die Produktion nachhaltiger. Durch die Verbindung zur Kundschaft kann Nachfrage beispielsweise schneller und individueller bedient werden. Es wird also nicht mehr auf Masse, sondern auf Nachfrage produziert. Folglich werden auch nur noch die Rohstoffe verbraucht, die auch wirklich benötigt werden. Das wiederum macht auch die Lieferkette effizienter – und reduziert den Energieverbrauch. So machen sich die smarten Systeme auch in der Ökobilanz bemerkbar.

Gerade auf Autobauer wird der Nachhaltigkeitsdruck immer größer. Immerhin haben sie seit Jahrzehnten indirekt einen enormen CO₂-Ausstoß zu verantworten. Investitionen in die Industrie 4.0 sind für die Branche daher auch Investitionen in eine nachhaltige Zukunft. Und bei Seat in Martorell haben sie gerade erst 2019 weitere 57 Millionen Euro investiert. Das neue Industriezeitalter hat schließlich gerade erst begonnen.
Du findest das Thema spannend? Dann markiere dir den 30. Juni und 01. Juli rot im Kalender! Denn dann wird auf der fintropolis über dieses und weitere spannende Themen gesprochen.