Arbeitsalltag in Deutschland: Es ist zehn Uhr morgens, das tägliche Meeting steht an. Knapp 20 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sitzen im engen, stickigen Konferenzraum und warten, dass es losgeht. Dann erscheint der Büroleiter: „Viel zu besprechen gibt es eigentlich nicht“, sagt er.

Dennoch zieht sich die Konferenz eine Stunde hin. Als sie zu Ende ist, gehen die Kollegen in Grüppchen aus dem Meeting-Raum hinaus. Dabei gibt es Getuschel, einer fragt den anderen leise: „Warum machen wir das bloß jeden Tag?“ Der schüttelt ratlos den Kopf.
Tatsächlich ist es so, dass viele Meetings unnötig sind – oftmals gibt es gar nichts zu besprechen, aber sie werden trotzdem durchgeführt. Einfach, weil sie eben schon immer stattgefunden haben. Sie sind da und bleiben es auch. Und dies betrifft nicht nur Konferenzen.
Festgefahrene Unternehmenskulturen
„In vielen Unternehmen werden Meetings und andere feststehende Termine nie verändert“, erklärt Torsten Scheller, „weil sie zur Unternehmenstradition geworden sind. Aber genau das ist enorm schädlich für eine Firma. Denn dadurch verharrt sie in ihren Strukturen, kann sich nicht weiterentwickeln.“
Scheller ist Coach für agiles Arbeiten, er ist für Unternehmen tätig und bringt ihnen bei, wie sie zukunftsfähiger werden. Er muss es also wissen. Und tatsächlich sagen 50 Prozent aller Führungskräfte, dass diese alteingesessenen Prozesse der Weiterentwicklung des Unternehmens im Weg stehen.
„Viele Firmen merken, dass etwas bei ihnen schiefläuft“, sagt Scheller, „aber viele von ihnen wissen nicht wirklich, was es ist und was sie dagegen tun können.“ Dabei gebe es eine effektive Methode, um eingefahrene Traditionen zu hinterfragen, zu verbessern, zu erneuern: das sogenannte „Culture Hacking“. Scheller ist überzeugt: „Das hilft hervorragend!“
Konzept aus der Kunst-Szene
Culture… was? „Culture Hacking ist ein Konzept, das ursprünglich aus der Kunst-Szene stammt“, erklärt der Coach, „es bezeichnete dort künstlerische Aktionen – Hacks – die althergebrachte kulturelle Standards von innen heraus angreifen und aufrütteln sollten.“ Besonders in der Avantgarde und im Punk wurde es praktiziert.
Vor mehreren Jahren wurde das Culture Hacking dann aus dem Kunstbetrieb heraus von der Arbeitswelt adaptiert. Dort steht der Begriff ebenfalls für kleine Aktionen (auch hier Hacks genannt), die eine häufig sehr eingefahrene Firmenkultur aus dem Inneren heraus … genau: angreifen und aufrütteln sollen.
Wie solch ein Unternehmens-Hack aussieht? „Es sollte eine Aktion sein, die einen kurzen, aber möglichst schmerzhaften Stich ins System des Unternehmens setzt“, sagt Scheller: „Sie kann damit von innen heraus aufzeigen, was schiefläuft und an welchen Stellen es Verbesserungsbedarf gibt.“

Vom Blog bis zur Toiletten-Tür
Das bringt einiges: Denn im besten Fall sehen viele Menschen, was optimiert werden kann – und dann wird es auch umgesetzt. Ein Beispiel für solch einen gelungenen, sehr moderaten Hack ist etwa ein neuer Unternehmensblog, der in betont lockerer Sprache geschrieben ist – und damit die Menschen besser und emotionaler erreicht.
Ein anderer, deutlich fortgeschrittener Hack: Eine Abteilung schreibt ihre Ideen an die Toiletten-Türen im Firmen-WC – damit wirklich alle Mitarbeiter auf sie aufmerksam werden. Ja, das ist tatsächlich geschehen und hat vermutlich gewirkt, da die Ideen sicherlich von allen gelesen wurden.
Doch wie wirksam genau all diese Hacks sind, ist nicht bekannt. „Es gibt keine Daten dazu, wie oft eine solche Aktion funktioniert hat und was sie eingebracht hat“, sagt Scheller. Offenbar scheint das Culture Hacking aber trotz der fehlenden Zahlen zu funktionieren.
Große Unternehmen sind schon dabei
Die Methode wird nämlich schon in mehreren großen Unternehmen praktiziert – etwa beim globalen Technologie- und Beratungshaus IBM. „Wir nutzen Culture Hacking sowohl für uns als auch für unsere Kunden“, sagt Dr. Lars Schatilow, der das Change-Consulting in der DACH-Region für IBM verantwortet.
Er erklärt: „Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter identifizieren regelmäßig kulturelle Schmerzpunkte auf Team- und Bereichsebene und überlegen sich dann kleine, aber wirksame Maßnahmen („Hacks“), um die Kultur spürbar zu verbessern.“ Es gebe sogar einen Termin alle zwei Wochen, bei denen sich Teams über ihre Ideen austauschen, positive wie negative Erfahrungen teilen und sich gegenseitig beim Verbessern helfen.
Außerdem gebe es ein Programm, bei dem eine Führungskraft einen jungen Mitarbeiter einen halben oder ganzen Tag begleitet, um selbst zu sehen, was genau überall in der Firma vor sich geht. Und wie sind die Erfahrungen bisher? „Wir sind sehr zufrieden damit, wie es läuft“, so Dr. Lars Schatilow. Auch hier gibt es „ganz bewusst“ keine Zahlen, denn „es geht um Qualität, nicht um Quantität.“

„Kann jede Firma nach vorne bringen“
Und nicht nur IBM, auch andere Unternehmen scheinen von der Methode überzeugt: Beim Online-Giganten Amazon können alle Mitarbeiter jederzeit ihre Ideen einreichen, die vom Vorgesetzten bearbeitet werden. Wenn dieser die Idee ablehnt, muss er eine lange Begründung für die Ablehnung schreiben, die im Intranet veröffentlicht wird.
Oder beim deutschen Wasserpumpen-Hersteller Grundfos: Dort geht man hacking-technisch noch einen Schritt weiter und hat ein komplettes Gebäude ausgebaut – in dem zudem regelmäßig die Inneneinrichtung ausgewechselt wird. So sollen Kreativität und Innovationskraft der Mitarbeiter angeregt werden.
„Viele große Firmen sind schon überzeugt von der Culture-Hacking Methode“, sagt Scheller, „und deswegen werden bald auch mittelgroße und kleine Unternehmen nachfolgen.“ Das sei der richtige Weg: „Das Culture Hacking kann wirklich jede Firma nach vorne bringen!“
Was Mitarbeiter zur Transformation beitragen
Culture Hacking ist eine von mehreren Methoden, mit denen Unternehmen die digitale Transformation angehen können. Im Podcast spricht Sarah Ochs mit Jost Hischebeth und Jens Zimmermann aus dem Transformation Steering der Fiducia & GAD über weitere Maßnahmen und darüber, welche Rolle die Mitarbeiter bei einer Transformation einnehmen.