„Als Nicht-Schwimmer springe ich nicht ins tiefe Wasser. Ich fange mit etwas Theorie an und gehe dann an eine flache Stelle, um zu üben“, sagt Roland Ullrich über die rund 2,4 Millionen neuen Anleger*innen an der deutschen Börse. Aufgrund von niedrigschwelligen Angeboten und Zero-, beziehungsweise Low-Cost-Modellen von Handelsplattformen machen einige Neulinge genau das: Sie ziehen ihre ersten Bahnen im Haifischbecken „Börse“. Viele von ihnen ohne theoretisches Wissen über die internationalen Märkte oder die Fähigkeit, die eigene Psyche zu händeln. „Hier sehe ich Parallelen zur Dotcom-Blase: Millionen Neulinge, die nicht das Handwerkszeug haben, um bei den Großen mitzuspielen“, so Ullrich.

Ein kurzer Rückblick: Im Jahr 1996 betritt die Deutsche Telekom das Parkett. Unzählige Deutsche packt das Börsenfieber – zusätzlich befeuert von einer rund 50 Millionen Euro teuren Marketing-Kampagne der Telekom und dem Versprechen, die T-Aktie sei so sicher wie eine Zusatzrente. Als Volksaktie wird das Wertpapier angepriesen. 1,9 Millionen Deutsche investieren, jede*r Dritte ist dabei ohne jegliche Erfahrung – und legt das Kapital in nur eine Aktie an. Im Jahr 2000 dann die große Ernüchterung: Nachdem die Dotcom-Blase geplatzt war, erholte sich die T-Aktie nie wieder. Viele verloren ihr Geld und kehrten den Finanzmärkten den Rücken zu.
Umstände ändern sich – der Mensch nicht
„Zu propagieren, dass ein Investment in eine einzelne Aktie eine sichere Altersvorsorge darstellt, war ein Unding“, sagt Professor Martin Weber von der Universität Mannheim und Initiator des Portals behavioral-finance.de, das sich mit der verhaltensorientierten Finanztheorie beschäftigt. Anleger*innen sollten den Ansatz der Börse verstehen, bevor sie investieren. „Sie ist als ein Mittel zur Unternehmensfinanzierung und zur langfristigen, breit diversifizierten Anlage zu sehen“, so Weber. Die goldenen Regeln der internationalen Märkte würden sich – genauso wenig wie der Mensch – niemals ändern. Vielmehr sind es die äußeren Einflüsse, mit denen Börsenneulinge lernen müssen, klarzukommen.

„Unser Gehirn ist das Ergebnis einer Millionen Jahre andauernden Evolution. Während sich die Technologie rasant entwickelt, hat sich an unserem Gehirn im gleichen Zeitraum wenig geändert. Deshalb stellt es eine große Herausforderung dar, alte Gewohnheiten und neue Möglichkeiten auf einen Nenner zu bringen“, so Ullrich. Das betrifft vor allem den Umgang mit Emotionen: Sie sind seit jeher ein schlechter Ratgeber, vor allem in Finanzfragen. Das umfangreichste Fachwissen nützt nichts, wenn der oder die Anleger*in impulsiv handelt und sich von Empfindungen leiten lässt.
Impulse ausblenden
Eigentlich sollte die digitale Vermögensverwaltung ein gutes Vehikel für die technikaffine, junge Generation sein, um frei von Emotionen und ohne Know-how an den internationalen Märkten mitspielen – sowie erfolgreich sein zu können. Doch inzwischen macht sich Ernüchterung breit. „Menschen können auch bei den Robo Advisors jederzeit eingreifen und handeln. 80 bis 90 Prozent der Anleger*innen verlieren Kapital, wenn sie in kurzen Zeiträumen handeln“, so Ullrich. Investieren statt spekulieren, so die Devise. Doch das ist gar nicht so einfach: Das Mediennutzungsverhalten hat sich während der vergangenen Jahre drastisch geändert. Ständig sind wir mit den neuesten News konfrontiert. Ob kleinere Skandale, schlechte Nachrichten oder eine vermeintlich bahnbrechende Innovation eines Unternehmens, in dem man (noch) nicht investiert ist. All diese Informationen überfordern die menschliche Psyche und verleiten die Anleger*innen zu impulsivem Handeln.

„Auf Basis von Unternehmensnews zu handeln, ist ein absolutes No-Go. Vor einem Investment sollte ich mich mit Geschäftsberichten und den relevanten Kennzahlen auseinandersetzen. Im Gesamtkontext ändert eine einzelne Nachricht wenig, dennoch kann sie bei Investor*innen zu einer Überreaktion führen“, so Weber. Deshalb haben sich auch die Anforderungen an die Anlageberatung geändert. Es brauche keine*n Anlageberater*in, der oder die versuche, die Märkte zu schlagen – das sei laut Weber ohnehin nicht möglich. Heutzutage müssen Berater*innen die Anleger*innen an die Hand nehmen und ihnen beibringen, mit den Unsicherheiten umzugehen. Denn nach wie vor haben viele Leute Angst, an die Börse zu gehen, vor allem die Dotcom-geschädigte Generation. „Diese Furcht muss den Menschen genommen werden und auch das Bild von der ‚Zockerbude‘ sollte aus den Köpfen verschwinden“, beteuert Weber. Denn die Demokratisierung des Anlageverhaltens sei eine gute Sache für Privatanleger*innen.
Die Märkte verhalten sich konträr zu unseren evolutionär erlernten Denk- und Verhaltensmustern.
Roland Ullrich, Experte für Finanzpsychologie
Völlig ungeeignet
Nun ist es der Masse möglich, nach dem großen Kapital zu greifen – beispielsweise mit ETFs. Mit einem Investment in Exchange Traded Funds können Anleger*innen viele (Anfänger-)Fehler vermeiden. Sie bilden einen breiten Aktienindex ab und sind somit diversifiziert, sind kostengünstig und eine langfristige Geldanlage. Hier liegt für viele Neulinge allerdings auch die Krux: Viele versprechen sich durch den Gang an die Finanzmärkte schnellen Reichtum und bringen zu wenig Geduld mit. „Die Gesetzmäßigkeiten der Natur lassen sich für den Menschen kurzfristig prognostizieren, aber nicht langfristig. Daran hat sich unser Gehirn angepasst.

An der Börse läuft es dagegen umgekehrt: Kurzfristig kann niemand vorhersagen, wie sich die Kurse entwickeln. Jedoch steigen sie langfristig – die Märkte verhalten sich konträr zu unseren evolutionär erlernten Denk- und Verhaltensmustern“, analysiert Ullrich. Der Mensch sei von Natur aus völlig ungeeignet, an der Börse erfolgreich zu handeln. Denn: An der Börse gibt es keine Gesetzmäßigkeiten, nur Wahrscheinlichkeiten. Deshalb sollten sich Anleger*innen vor dem Gang aufs Parkett eine klare Strategie zurechtlegen: Wo liegt meine Verlustgrenze? Über welchen Zeitraum will ich investieren? Bringe ich mein Kapital auf einmal oder gestaffelt in den Markt? Wie reagiere ich im Verlust-, wie im Gewinnfall?
Selbstbindung für Selbstbeherrschung
Die Antworten auf diese Frage liefern das Grundgerüst für eine Anlagestrategie, die Investor*innen jederzeit befolgen sollten. Sie hilft dabei, auch während volatiler Zeiten einen kühlen Kopf zu bewahren – und sich nicht von Emotionen leiten zu lassen. „Wenn die Märkte unruhig sind, haben Menschen das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren.

Das bedeutet für die Psyche großen Stress. In diesen Momenten sollten sie sich unbedingt an ihre vorher festgelegte Strategie halten“, sagt Ullrich. Hierbei kann auch eine comittment device (deutsch: Selbstbindung) helfen. Auf diesem Wege können Anleger*innen die kurzfristige Handlungsfreiheit zu Gunsten eines langfristigen Ziels einschränken. Auch wenn man von Zeit zu Zeit seiner menschlichen Seite nachgeben sollte. „Wir haben zwei Personen in uns: Zum einen die rational denkende, zum anderen eine emotionale Seite, die belohnt werden möchte. Wir sollten zwar erstere bevorzugen, müssen aber auch den inneren Schluri befriedigen, um selbst bei Laune und glücklich zu bleiben. Der rationale Umgang mit den inneren Bedürfnissen ist oft der Weg zum Erfolg“, rät Weber. Daran werde sich auch in Zukunft wenig ändern – unabhängig von Digitalisierung, Volatilitäten und Crashs.