Fehler, Probleme und Schwachstellen in Produkten oder komplexen Prozessen erkennen, lange bevor sie überhaupt auftreten. Zu gut, um wahr zu sein? Was für manche Unternehmer*innen wie utopische Zukunftsmusik klingen mag, ist in einigen Industriezweigen längst ein fester Bestandteil der Produktionsprozesse geworden. Optimierungen erfolgen heutzutage nämlich nicht mehr nur auf „Trial and Error“-Basis, also auf Versuchen und Irrtümern, sondern mittels Simulationen in der virtuellen Welt. Zugegeben: Auch das liest sich beinahe zu gut, um wahr zu sein und scheint einem Sciene-Fiction-Film entsprungen. Doch die sogenannten Digital Twins oder digitale Zwillinge, haben sich in der Industrie 4.0 längst etabliert.

Fehlerbehebung 2.0 – dank eines digitalen Abbildes
Vorstellen kann man sich diesen Digital Twin in der Tat genau wie einen Zwilling: eine exakte virtuelle Kopie des realen Produkts oder Prozesses. Ermöglicht wird dies durch bereits vorhandene Datensätze sowie Echtzeitdaten, die der digitale Zwilling stetig sammelt. Als Quelle dient ihm die steigende Anzahl an IoT-Sensoren, die mittlerweile in unzähligen vernetzten Häusern, Autos und intelligenten Fabriken verbaut sind. Heißt: Jedes noch so kleine vernetzte Haushaltsgerät, unsere Autos und selbst riesige Maschinen in Fabriken sind mit Sensoren ausgestattet, die unablässig messen, auswerten und all diese Informationen letztlich weiterleiten. Der digitale Zwilling empfängt diese Daten und kann nun berechnen, nach wie vielen Tagen beispielsweise eine Glühbirne im Kühlschrank ausgetauscht werden muss, wann bei bestimmten Autoteilen die Materialermüdung eintritt oder Maschine X in Fertigungshalle Y wieder gewartet werden muss.
Gut zu wissen: Im sogenannten Internet of Things (IoT), auf Deutsch auch "Internet der Dinge" genannt, bekommen Gegenstände nicht nur eine Identität. Sie können via WLAN oder Bluetooth auch miteinander kommunizieren oder Befehle entgegennehmen. Möglich machen dies das Internet und die Mikroprozessortechnik. Für diese „Smart Devices“ finden sich zahlreiche Anwendungsbereiche wie die Beleuchtungssteuerung im eigenen Zuhause oder auch die Überwachung von Transportwegen in der Logistik.
Selbst Lieferketten, die sich über mehrere Kontinente erstrecken, können abgebildet werden. Hier greifen die Digital Twins sogar auf Wetterberichte zu und können Verzögerungen aufgrund von Stürmen vorhersagen – oder wie lange Kund*innen auf ihre Ware warten müssen, wenn ein Containerschiff im Suezkanal stecken bleibt. Der Vorteil dieser digitalen Abbilder liegt auf der Hand: Nahezu jedes Produkt und jeder Prozess kann stetig optimiert werden. Die digitalen Zwillinge gibt es aber selbstverständlich nicht nur für bereits vorhandene Objekte. Gerade in der Produktentwicklung kommt das digitale Abbild oft zum Einsatz. So können, lange bevor Personal zum Einsatz kommt und Geld investiert wird, bereits mögliche Schwachstellen ausgemerzt werden.

Von der Zündkerze bis zur Turbine
Anwendungsbereiche für die virtuellen Zwillinge gibt es viele. So beispielsweise den Automobilsektor. Gerade in Sachen Produkttests und Haltbarkeitsprüfungen kommen die digitalen Zwillinge hier zum Einsatz. Um festzustellen, ob ein bestimmtes Bauteil nach 50.000 Kilometern klappert, muss man also nicht mehr zwangsläufig auf die Teststrecke, sondern füttert stattdessen das Abbild mit allen nötigen Informationen. Zusätzlich können verschiedenste Wetterbedingungen wie Regen oder extreme Hitze und auch unterschiedliche Untergründe von der Schotterpiste bis zur frisch geteerten Autobahn simuliert werden. Auch Daimler setzt bei seiner Fahrzeugentwicklung mittlerweile auf diese Art der Technologie. Dafür hat sich das Unternehmen sogar Unterstützung von Siemens geholt. Doch obwohl der Automobilriese klare Vorteile in der Nutzung der Zwillinge sieht, kommt man gerade bei der Produktionsfreigabe nicht um einen abschließenden Test in der realen Welt herum. So sei es zum Beispiel nicht möglich, Gummi und dessen natürliche Eigenschaften zu simulieren, erklärt Bruno Seufert, der seit 1998 für die komplette Betriebsfestigkeit im Bereich des Fahrwerks bei der Daimler AG verantwortlich ist. Und auch das Schrammen des Fahrwerks über Bordsteine sowie Bodenwellen und dadurch entstehende Schäden könne in der digitalen Welt noch nicht zu 100 Prozent dargestellt werden.
Was für ein einfaches Auto möglich ist, kann man jedoch auch drei Nummern größer denken: Bereits seit rund vier Jahren nutzt beispielsweise die Lufthansa digitale Zwillinge, um die Wartung ihrer Maschinen effizienter zu gestalten. Auf der hauseigenen Plattform „Aviatar“ können Flugzeuge – von der kleinsten Leselampe bis hin zum Triebwerk – digital nachgebildet und mittels Sensoren mit dem realen Vorbild verknüpft werden. Doch nicht nur das Flugzeug als solches kann dank „Aviatar“ simuliert und bestenfalls optimiert werden: Das Programm unterstützt Nutzer bei der Verwaltung ihrer Flotten, in dem es unter anderem Flugausfälle oder Passagierströme vorhersagt.

So geht Stadtentwicklung von morgen
Schneller, höher – vor allem aber größer! Warum Digital Twins nur bei vergleichsweise kleinen Objekten anwenden, wenn man dank Building Information Modeling, kurz BIM, und Big Data ganze Städte nachbilden kann? Die Daten stammen wie beim Auto oder dem Flugzeug von IoT-Sensoren, die im Gebäude verbaut sind. Abbilden lassen sich so nicht nur das Gebäude selbst oder Straßen, sondern beispielsweise auch das Abfallmanagement und ganze Prozessketten wie Mobilitätsströme oder gar Treibhausgasemissionen. Planungsbüros können so nicht nur den Verkehr intelligenter steuern oder die Nutzung bereits vorhandener Flächen optimieren: Das digitale Modell dient als Entscheidungsgrundlage, wenn es um die Sinnhaftigkeit und Risiken von Projekten geht. Eine Stadt nachhaltiger und resilienter zu gestalten – das ermöglichen die digitalen Zwillinge und sind somit für die Stadtplanung der Zukunft unablässig.

Digital Twin: Ein klarer Gewinn für die Medizin
Die große Frage ist nun: Wenn man heute bereits nahezu jedes Produkt und jeden Prozess digital abbilden kann, bekommen dann auch wir bald einen solchen Zwilling von uns selbst? Gerade in der Medizin könnte dieser von großem Nutzen sein. Bedenkt man allein die jährlichen Todesfälle durch Neben- und Wechselwirkungen von Medikamenten. Laut Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte seien das bis zu 300.000 Fälle pro Jahr! Darüber ist sich auch der Genetiker und emeritierter Direktor des Max-Planck-Instituts für molekulare Genetik in Berlin, Professor Hans Lehrach im Klaren. Daher verfolgt er mit seinem Digi-Twins-Projekt das Ziel, anhand von Computermodellen eines jeden Patienten und einer jeden Patientin Fehler bei der Therapieauswahl zu umgehen. „Man würde ja auch kein Haus bauen, das beim ersten Windstoß zusammenfällt, sondern am Computer alle möglichen Gefahren berücksichtigen. Der einzige Bereich, in dem wir das nicht machen, ist die Medizin“, erklärt Professor Lehrach.
Und auch das Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden forscht bereits an digitalen Abbildern des Menschen. Genauer gesagt an einem virtuellen Modell der Leber: Durch eine exakte Simulation des Gallenflusses wollen die Forscher*innen lernen, Nebenwirkungen von Medikamenten besser vorherzusagen. Um aber das Abbild eines Menschen zu erstellen, bedarf es schon etwas mehr. Zuerst müssten dafür neuronale Netzwerke anhand von Millionen Datensätzen trainiert werden – bestenfalls entlang des Lebenswegs und noch bis über den Tod hinaus. Erst danach könnten diese Daten zu einem holistischen menschlichen Modell zusammengefügt werden, um so für spezifische Patient*innen Rückschlüsse zu ziehen.
Scheint ganz so, als würde Steven Spielberg recht behalten und unser persönliches virtuelles Abbild, wie es in „Ready Player One“ gezeigt wird, erst im Jahr 2045 von der Fiktion zur Realität werden.
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