Nach dem Aufstehen die AR-Kontaktlinse einsetzen, die Nachrichten abrufen und noch vor dem Frühstück die Kontobewegungen checken. Anschließend die Kontaktlinse gegen die Brille Microsoft HoloLens austauschen und in der Video-Beratung per AR mit dem Bankberater das Portfolio durchsprechen. Noch ist das eine Zukunftsvision, für Heiko Faller allerdings keine allzu ferne mehr. Er ist Innovationsmanager bei der Fiducia & GAD und beschäftigt sich intensiv mit dem Bereich Mixed Reality. Der Begriff umfasst die Technologien Virtual Reality (VR), Augmented Reality (AR) sowie Augmented Virtuality (AV). Zusammen mit seinen Kollegen arbeitet er unter anderem daran, nutzbringende Einsatzmöglichkeiten für AR im Finanzwesen zu schaffen.

Augmented Reality – das steht für die Überlagerung der wirklichen Welt mit virtuellen Elementen. Etwa, wenn per Smartphone oder speziellen Displays digitale Informationen in unserer unmittelbaren Umgebung eingeblendet werden. Bereits 2005 sah das Marktforschungsunternehmen Gartner AR als mittelfristig relevantes Thema an und schätzte, dass es binnen zehn Jahren seinen Höhepunkt in der öffentlichen Wahrnehmung erreichen werde. Die Experten lagen richtig, denn 2016 wurde die Technologie schlagartig einem breiten Publikum bekannt.
Im Sommer 2016 ging „Pokémon Go“ an den Start und revolutionierte die Smartphone-Games. Selbst wer bis dahin nichts mit Pikachu und Co. anfangen konnte, jagte plötzlich den Fantasiewesen nach. Das lag vor allem am neuartigen Spielmodus: Über das Kamerabild wurden die fiktiven Kreaturen per AR in der Wirklichkeit eingeblendet. So saß plötzlich ein virtuelles Pikachu auf dem echten Schreibtisch. Ziel des Spiels: Pokémons mit virtuellen Bällen abwerfen und fangen.
Shoppingberatung per AR
Rund drei Jahre später ist „Pokémon Go“ längst nicht mehr interessant und auch Gartner hat AR aus dem „Hype Cycle for Emerging Technologies 2019“ geworfen. Im Vorjahr hat der Marktforscher die Technologie bereits in der Krise gesehen. Hat AR also keine Zukunft? Dem widerspricht Heiko Faller. Immerhin wird die Technologie in etlichen Bereichen bereits erfolgreich eingesetzt. In Apps wie Instagram oder Snapchat etwa, wenn mittels Gesichtserkennung auf dem Display des Smartphones zusätzliche Elemente, wie Masken oder Filter, eingeblendet werden. Auch Audioguides in Museen und Ausstellungen rechnet Faller dazu: „Durch erklärende Texte und passende akustische Ergänzungen wird die Realität des Besuchers erweitert. Als ich die historische Klosteranlage Battle Abbey in England besucht habe, waren über den Audioguide zum Beispiel auch Schlachtgeräusche zu hören. Das ist für mich Augmented Reality, auch wenn die Anwendung rein auf Audiobasis funktioniert.“

Möbelrücken leicht gemacht – dank AR: Seit 2017 bietet IKEA eine App an, die den Möbelkauf erleichtert. Mittels AR können Käufer vorab testen, ob genug Platz für den Wunschschrank ist oder das Traumsofa farblich dazu passt. Über die App werden Sessel, Regal oder Tisch einfach virtuell im Raum platziert. Exakte Größenverhältnisse, Lichteinfall und Schattenwürfe inklusive. Fehlkäufe? Fehlanzeige!
Technologie mit Potenzial
Auch Unternehmen profitieren von der Technologie. „In der Logistik kommt AR bei der Kommissionierung schon regelmäßig zum Einsatz. Über die AR-Brille bekommt der Mitarbeiter eine Liste mit dem Lagerstand sowie den Weg zum richtigen Regal angezeigt. Mit der Brille kann das Produkt zudem abgescannt und anschließend verladen werden“, erklärt Faller. Ein weiterer Anwendungsfall: Wartungsarbeiten mit AR-Unterstützung. Der Techniker kann bei komplexen Reparaturen mit AR-Einblendungen durch die einzelnen Arbeitsschritte gelotst werden. Generell seien alle Branchen an der Technologie interessiert, sagt Faller. Ein weiteres Beispiel: Der Einzelhandel experimentiert mit speziellen Apps, um das Einkaufserlebnis aufzuwerten.
Als Innovationsmanager bei der Fiducia & GAD stehen für Faller aber vor allem die möglichen Einsatzgebiete für Finanzinstitute im Fokus. Momentan nutzen Banken die Technologie vor allem, um Erlebnisse für den Kunden zu schaffen. Die neuseeländische Bank Westpac etwa bietet eine auf AR basierende Finanzmanager-App an. Die Anwendung erweckt die Kreditkarte zum Leben und gibt auf dem Smartphone-Display Auskünfte über den Zahlungsverkehr. Farbige Säulen in 3D zeigen an, wieviel Geld für Lebensmittel, Lifestyle-Produkte oder Reisen ausgegeben wurde. Für Faller ist das bislang nur eine technische, wenn auch coole Spielerei: „Hier fehlt mir der Mehrwert, denn die Informationen könnte man auch ohne AR-Funktion auf dem Smartphone anzeigen lassen.“

Das gelte auch für viele andere Anwendungen, die auf AR basieren – ein richtiger Mehrwert, jenseits des Spielerischen und des Erlebnisfaktors fehle noch. Trotzdem sieht Faller das große Potenzial in der Technologie. Bereits für seine Bachelorarbeit hat er bei der Fiducia & GAD ein digitales Beratungsangebot entwickelt: In der Anwendung wird mittels AR eine Bankberaterin in 3D eingeblendet, mit der man über einen Chatbot kommunizieren kann. Möglich sind Fragen zum Kreditabschluss sowie zum Kontostand. Bei den Kunden kommt das Prinzip an. Zwar ziehen sie den Menschen immer noch dem Chatbot vor. Durch die Visualisierung in 3D sei die Kommunikation aber schon angenehmer angewesen, hätten Testnutzer Faller berichtet. Beratungen per Video oder Chatbot können so auf ein neues Level gehoben werden. Der erste Schritt, um die Grenzen zwischen realer und virtueller Welt zu verwischen.