Bemessen nach Geldwerten ist die globale Finanzwirtschaft in etwa viermal so groß wie die gesamte Realwirtschaft zusammen. Allein das globale Handelsvolumen von Aktien lag im Jahr 2020 bei rund 186 Billionen US-Dollar. Geld, das von Tausenden von Anlegenden in Unternehmen und Fonds auf der ganzen Welt investiert wird, um möglichst große Profite zu machen. Ein Prozess, der rund um die Uhr gemanaged werden muss, denn die Dynamiken des Marktes machen eine ständige Neubewertung aller Portfolio-Positionen und Anlagemöglichkeiten nötig.

Der Herr der Daten
Mit anderen Worten: Asset Manager*innen stehen bei der Verwaltung ihrer Kundenvermögen unter einem permanenten Optimierungsdruck. Verpassen sie eine gute Investitionsmöglichkeit oder halten sie zu lange an einer „lame duck“ fest, büßen sie sofort an Rentabilität ein. Die Konsequenz: Über kurz oder lang wandert das Kapital ihrer Anlegenden zur Konkurrenz. Informationen über die Finanzmärkte und Realwirtschaft sind für sie deshalb von erheblichem Wert.
Welche Informationen relevant sind, ist dabei gar nicht so einfach zu sagen. Zumal die Menge an verfügbaren Daten heute schier unendlich ist. Eine Politikerin, die ein neues Steuergesetz verabschiedet, Forschende, die eine neue Technologie entwickeln oder Unternehmen, die rote Zahlen schreiben – alles könnte Auswirkungen auf die Finanzmärkte haben. Um in dieser Informationsflut nicht unterzugehen, holen sich Vermögenverwalt*innen Hilfe von Computern, die große Datenmengen in Sekundenschnelle verarbeiten, interpretieren und Handlungsempfehlungen ableiten können.

Selbstoptimierende Blackbox
Branchenriesen wie die Vermögensverwalter Vanguard, Blackrock und State Street, stecken viel Geld in die Entwicklung von Anlage-Programmen, die häufig auch Robo Advisor genannt werden. Ihr Herzstück bilden von Programmierer*innen geschriebene Algorithmen. Mit ihnen werten die Superhirne verschiedene Daten aus und treffen Entscheidungen, wobei die Komplexität der Befehlsketten ständig zunimmt. Dafür verantwortlich sind zum Teil auch die Computer selbst, da sie ihre Mittel bei der Erreichung vorgegebener Ziele selbst auswählen und sich so optimieren können – Machine Learning und Künstlicher Intelligenz sei Dank.
Das Resultat: Für Manager*innen, die bei ihren Entscheidungen auf die Hilfe der Robo Advisor zurückgreifen, ist häufig nicht mehr nachvollziehbar, wie die Computer zu ihren Ergebnissen kommen. Zwischen Input und Output rattert eine tiefschwarze Blackbox – superintelligent und undurchschaubar. Die bekannteste ihrer Art gehört dem größten Vermögensverwalter der Welt: Blackrock. Das 1988 gegründete Unternehmen aus New York verwaltet derzeit über neun Billionen US-Dollar und damit eine Summe, die in etwa zweieinhalb Mal so groß ist wie das deutsche Bruttoinlandsprodukt. Kaum ein Unternehmen, in das die rund 16.000 Mitarbeitenden des Weltkonzerns nicht investieren. Dabei stets zu ihren Diensten: Der Supercomputer Aladdin.

Der mächtigste Computer der Welt
Aladdin ist ein riesiges Analysesystem für große Datenmengen, das auf vier Rechenzentren und rund 5.000 Server verteilt ist. Bei Blackrock greifen etwa 1.000 Analyst*innen in ihrem Arbeitsalltag auf die Unterstützung des Systems zurück, doch auch andere Unternehmen können sich die Rechenleistung des Superhirns dazu kaufen (nach Schätzungen rund 900 Kunden). Dabei stellt das Programm bis zu 200 Millionen Kalkulationen pro Woche an und schlägt Kolleg*innen vor, in welche Targets investiert und welche Positionen besser wieder liquidiert werden sollen. Um seine Empfehlungen anzustellen, errechnet es aus riesigen Datenmengen immer wieder aktuelle Bewertungen von Investments und Anlagemöglichkeiten.
Darüber hinaus ist Aladdin allerdings auch dazu in der Lage, Prognosen zur Wertentwicklung von verschiedenen Investitionszielen vorzunehmen. Dabei berücksichtigt das Programm die möglichen Veränderungen von Umweltbedingungen auf Märkten und versucht den Einfluss von externen Effekten vorherzusagen. Asset Manager*innen können so die Chancen und Risiken eines Portfolios abschätzen und frühzeitig auf die Veränderung wichtiger Größen reagieren – ob Konjunkturdaten, Wachstumsraten, Währungskurse, Energiepreise oder Umweltkatastrophen und politische Entscheidungen.

Selbsterfüllende Algorithmen
Informationsvorsprünge können stets den Gewinn oder Verlust von Milliarden bedeuten. Und da Aladdin eine der größten Datenkraken ihrer Art ist, sind ihre Vorhersagen häufig genauer als die von Konkurrenten. Blackrock hat mit dem Supercomputer deshalb einen echten Wettbewerbsvorteil und verdient mit seinen Prognosen für gewöhnlich viel Geld. Doch abseits von den Vorteilen für seine Nutzer*innen bringt Aladdin auch ein großes systemisches Risiko mit sich.
Denn Vorhersagen – zumal von einem so einflussreichen Akteur wie Blackrock – verhalten sich nie neutral zum Markt. Vielmehr beeinflussen sie stets die Erwartungen und das Verhalten von anderen Marktteilnehmenden und können damit die Eintrittswahrscheinlich bestimmter Szenarien erheblich erhöhen („Lucas-Kritik“). Das gilt in besonderem Maße für die Finanzmärkte, denn ob ein Kurs steigt oder fällt, hängt hier einzig und allein davon ab, was andere Akteur*innen denken und erwarten. Und ob sich eine Prognose im Nachhinein als falsch herausstellt oder nicht, ist dafür im Grunde egal. Zumal Aladdin derart viele Investments beeinflusst, dass seine Prognosen kaum anders können als von einem Heer von Blackrock-Manager*innen unmittelbar in die Tat umgesetzt zu werden.

Blackbox mit Schattenseiten
Eine Möglichkeit dieses Problem der Marktbeeinflussung zu verhindern, wäre ein größeres Maß an Transparenz. Könnten Asset Manager*innen die Kalkulationen von Aladdin besser nachvollziehen, hätten sie mehr Möglichkeiten, sie zu hinterfragen und würden an Souveränität gewinnen. Doch Kritiker, wie der Think Tank „American Economic Liberties Project“, sind sich sicher, dass die Funktionsweise von Aladdin und anderen Anlage-Computern für Menschen nicht mehr nachvollziehbar ist. Die Wortführer*innen des Think Tanks, die auch den US-Präsidenten Joe Biden beraten, sprechen sich deshalb für die Abspaltung der Supercomputer von Blackrock, Vanguard und State Street aus.
Auch die deutsche „Initiative Finanzwende“ kritisiert den Einfluss von Aladdin und fordert den Eingriff der Europäischen Wettbewerbshörde. Laut „Finanzwende“ würde Aladdin rund 10 Prozent des weltweiten Vermögens beeinflussen und damit zu einem erheblichen Systemrisiko für die Funktionsweise des Marktes werden. Blackrock selbst teilt diese Einschätzung dagegen nicht. In einem Artikel der „Financial Times“, bezog das Unternehmen Stellung zu den Vorwürfen des „American Economic Liberties Project“. Demnach würden die Analysen der Denkfabriken „Ungenauigkeiten und Missverständnisse“ über die Zusammenhänge an den Finanzmärkten enthalten. Befürchtungen, dass Joe Biden die Vorschläge des Think Tanks durchsetzen könnte, hätten sich bisher nicht bewiesen.