Wenn man den schicken Websites und Prospekten glaubt, dann ist es in vielen deutschen Unternehmen ganz wunderbar: Die Mitarbeitenden dort arbeiten mit ihren Vorgesetzten auf Augenhöhe und dürfen nicht nur ihre Meinung sagen, sondern auch Neues ausprobieren.
„Das klingt alles klasse, entspricht aber noch wenig der Realität“, sagt Dr. Jörg-Peter Schröder. „So etwas schreibt sich schnell und liest sich gut, damit es öffentlich möglichst gut wahrgenommen wird. Aber wenn man dann als Mitarbeitender in dem Unternehmen arbeitet, klafft eine Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit.“
Jörg-Peter begleitet als Führungscoach Unternehmen in Transformationsprozessen: Wie werden sie fit für die Zukunft und wie können sie Potenziale bestmöglich nutzen? Viele Unternehmen haben diesbezüglich Luft nach oben. „Es braucht einen neuen Führungsstil“, erklärt er, „einen, welches die Bedürfnisse des Mitarbeitenden mit der Unternehmensstrategie sinnvoll verknüpft.“
Jörg-Peter, wie sieht die bisherige Führungskultur in vielen Unternehmen aus?
Die ist schon seit Jahrzehnten sehr hierarchisch ausgerichtet. Oben steht jemand an der Spitze und sagt den Leuten darunter, was sie zu tun haben – und auch, was sie nicht zu tun haben. Das führt dazu, dass Mitarbeitende Dinge ausführen, ohne ihr Potenzial voll nutzen zu können. Der Erfolg wird in eindeutigen Zahlen gemessen, in Zielvereinbarungen, die erreicht werden müssen.

Welche Vorteile hat eine solche Führungskultur?
Sie macht die Abläufe im Unternehmen sehr effizient. Alle wissen genau, was sie tun sollen und was erreicht werden muss und sind dementsprechend auf ihrem jeweiligen Gebiet sehr fokussiert. Der Fokus liegt auf Fehlervermeidung und Effizienz. Das ist natürlich ein Vorteil – allerdings führt es auch dazu, dass Mitarbeitende sehr abteilungsspezifisch an ihren Aufgaben arbeiten. Nur wenige schauen über den Tellerrand hinaus, probieren etwas aus, arbeiten synergetisch über Abteilungsgrenzen mit den Kollegen zusammen.
Und diese Arbeit über Abteilungsgrenzen hinweg ist so wichtig?
Unbedingt ist das wichtig. Ich habe schon erlebt, dass die Abteilungen mental so weit voneinander entfernt waren, dass da gar kein Verständnis mehr füreinander vorhanden war. Der Vertrieb dachte: „Wir sind wichtig, wir holen das Geld rein, ihr im Betrieb, ihr kontrolliert doch nur.“ Und der Betrieb dachte genau andersherum und hielt sich selber für deutlich bedeutender als den Vertrieb, weil er Kosten einspart. Das alte Abteilungsdenken wird von einem organischen Netzwerk abgelöst. Dies gelingt nur, wenn sich die Bereiche gegenseitig verstehen und co-kreativ unterstützen – dazu braucht es eine ganz neue Führungskultur.

Wie kann eine Firma erreichen, dass sich eine neue Führungskultur durchsetzt?
Das geht natürlich nicht von einem Tag auf den anderen. Man kann nicht einfach einen Schalter umlegen und sagen: „So, denkt jetzt mal ganz anders und seid agil“ und dann verstehen die Leute, dass interdisziplinäre Arbeit wichtig ist, dass man einander verstehen muss und zusammenarbeiten sollte. Viele Leute haben dieses alte Führungssystem so verinnerlicht, da helfen Appelle nicht weiter. Hier kommt der Führungsstil ins Spiel.
Wie soll das funktionieren?
Es gibt ja bereits Unternehmen, die anders handeln. Das sind meist sehr agile Firmen, häufig aus der IT-Branche. Die haben verstanden, dass man mehr erreicht, wenn man auf seine Mitarbeitenden eingeht. Wenn man jeden individuell betrachtet, seine Talente in den Vordergrund stellt und ihn entsprechend arbeiten lässt – dann kann sich der Vorstandsvorsitzende genauso einbringen wie jeder Praktikant. Und vor allem muss jeder wissen, warum er seinen Job eigentlich macht.
Was für ein Grund kann das sein?
Nun, es sollte nichts sein wie „Wenn Du deinen Job gut machst, dann verdient das Unternehmen so und so viel Millionen mehr im Jahr“. Das ist nur ein finanzielles Ziel, welches nicht auf dem Wertesystem aufbaut. Ein echter Sinn könnte eher etwas sein wie „Mit diesem Projekt schaffen wir es, die Welt etwas nachhaltiger zu machen“ – es muss eine Meta-Ebene geben, die das Wertesystem der Mitarbeitenden berührt.

Wenn ich Manager bin und verstanden habe, dass ich meinen Führungsstil ändern sollte und ihn neu ausrichten muss – wie gehe ich da vor? Was muss ich beachten?
Zum Thema Transformationale Führung gibt es die großen vier „I“, die wichtig sind: Da wäre zum einen die „inspirational motivation“, darüber haben wir schon gesprochen, das ist das höhere Ziel, der Sinn hinter der Arbeit, den ich für mich finden muss. Auch über die „individualised consideration“ haben wir geredet, das ist das genaue Eingehen auf jeden einzelnen Mitarbeitenden und das Nutzen seiner Talente. Dann hätten wir noch „idealised influence“, also die Vorbildfunktion. Man sollte als Manager mit gutem Beispiel vorangehen und nicht nur Lippenbekenntnisse abgeben, sondern auch wirklich danach handeln. Und schließlich gibt es die „intellectual stimulation“: Man sollte die Mitarbeitenden immer wieder herausfordern, sie neu und anders denken lassen, zum Beispiel, indem man sie auf andere Stationen versetzt oder sie für eine Zeit in neuen Abteilungen mitarbeiten lässt.
Das klingt alles sehr sinnvoll. Gibt es denn überhaupt irgendwelche Nachteile an diesem anderen, agilen Führungsstil?
Bisher habe ich noch von keinen Nachteilen gehört. Und ich könnte mir ehrlich gesagt auch gerade keine vorstellen – außer vielleicht bei der Bundeswehr, die darauf beruht, dass Befehle ausgeführt werden. Da sollte man nicht mitten in einem Einsatz plötzlich darüber nachdenken, dass man jetzt spontan Input geben will und auf Augenhöhe mit dem General ist. (lacht) Aber ansonsten denke ich, dass dieses neue System für wirklich alle Unternehmen Sinn macht und sie nach vorne bringen kann.

Lass uns einen Blick in die Zukunft werfen: Wie wird das Ganze in zehn oder zwanzig Jahren aussehen?
Ich kann nicht in eine Glaskugel schauen, denke aber schon, dass bis dahin viele Unternehmen von diesem "neuen" Führungsstil überzeugt sein werden. Aber ich glaube auch, dass einige dann immer noch mit dem alten, hierarchischen Modell arbeiten – und für manche Menschen wird das passen. Jeder Mensch tickt anders, jeder muss sein persönliches Arbeitsumfeld finden. Es wird niemals DIE eine Kultur geben, genauso wenig wie es DEN einen Menschen gibt.
Jörg-Peter Schröder ist Arzt, Führungscoach und Burn-Out-Experte. Er begleitet Unternehmen in Transformationsprozessen an der Nahtstelle von Leadership, Mindset-Change, Team-Spirit und organischer Unternehmenskultur. Mehr Informationen unter www.frequenzwechsel.de